Hilmar ist ein Isländer wie er im Buche steht. Rauschebart, aufrecht, windgegerbt. Nicht nur optisch, auch von seinem Wesen her ist er so, wie man sich einen echten Isländer vorstellt: nicht aus der Ruhe zu bringen, immer entspannt, cool sowieso, einer, der gerne draußen ist und die wilde Natur über alles liebt. Wenn er von kleinen und großen Abenteuern in seiner Heimat Island erzählt, dann ist das immer eine Mischung aus grenzenlosem Optimismus und Neugier, nie geht es um höher, schneller, weiter. Seine Abenteuer erscheinen so konsequent, so einfach und doch so spannend, dass man da gerne mit dabei sein möchte: Einfach mal losgehen, einige Tage fernab von jeglicher Zivilisation, nur mit Zelt und Schlafsack durch wilde Vulkanlandschaften wandern, vorbei an endlosen Gletschern und namenlosen (oder unaussprechlichen) Gipfel, sein Essen kochen, unterm Sternenhimmel schlafen… Na ja, spätestens beim Sternenhimmel sollte man hellhörig werden. Denn der gehört nicht zu Islands Kernkompetenzen. Eher Wind und Wetter. Aus unserer (mitteleuropäischen) Perspektive ist Island immer Wind und Wetter. Schönwetter-Fenster sind kurz, Wind gibt es fast immer und Regen oder Schnee gehören einfach dazu, wenn man draußen unterwegs sein möchte. Was der Isländer im Allgemeinen und Hilmar im Speziellen unter schlechtem Wetter versteht, das geht bei uns dann eher in Richtung „keinen Hund vor die Türe lassen“ und „alle Luken dicht machen“.
Ein typisch isländisches Abenteuer
Wie dem auch sei, ein besonderes und typisch isländisches Abenteuer ganz nach Hilmars Geschmack ist die Besteigung des Hvannadalshnúkur, des höchsten Gipfels Islands. Zwar ist der Hvannadalshnúkur „nur“ lächerliche 2.110m hoch, trotzdem, wenn er denn mal aus den Wolken kommt, erscheint er äußerst ein- drucksvoll inmitten des riesigen, 8110 qkm großen Vatnajökull Gletschers. Der ist nebenbei bemerkt, der größte Gletscher Europas außerhalb der Polarregion. Entsprechend wild, wenn auch technisch unschwierig, ist der Anstieg über messerscharfes Lava-Gestein, über endlose Gletscherflächen und zu guter Letzt über einen 300 Meter hohen Eishang bis zum einsamen Gipfel. Nach einer langen Autofahrt von Siglufjörður über die Ringstraße treffen wir Hilmar am späten Nachmittag am Strand des Porlarmeers unweit des Hali County Hotels. Von hier bietet sich (normalerweise) ein fantastischer Blick auf Islands größten Gletscher und auf den Hvannadalshnúkur. Doch wie nicht anders zu erwarten hüllt sich dieser in dichte Wolken, bald setzt ein leichter Nieselregen ein – aber das haben wir inzwischen gelernt, Nieselregen zählt nicht zur Kategorie „Schlechtes Wetter“.
Die Wolken hängen tief
Morgen wollen wir bereits um 6 Uhr in der Früh starten, falls das Wetter dem Wetterbericht entspricht. Der bringt zwar nicht ausgesprochen schönes Wetter, aber schon mal wenig Wind und wenn überhaupt, dann nur an den hohen Bergen etwas Regen oder Schnee. Na prima – Tatsächlich regnet es am kommenden Morgen nicht. Eine kurze Jeepfahrt bringt uns an den Ausgangspunkt. Die Wolken hängen tief, ein schmaler Pfad führt über scharfkantiges Vulkangestein, über Gletscherbäche und wilde Moränenlandschaft in dichten Nebel. Der Regen hat längst wieder eingesetzt, und als er in Schnee übergeht, haben wir schon einiges an Höhe gewonnen. Genaugenommen sind es 700 Höhenmeter und auf einer schmalen Schneezunge schnallen wir die Ski an. Die reicht vom Gletscher aus den undurchdringlichen Wolken bis weit in die Moränenwüste hinab. Alte Spuren, die mit der Zeit unter dem Neuschnee verschwinden, sowie ein zuverlässiger GPS-Track vermitteln im dichten White Out Sicherheit und Zuversicht. Die Hangneigung ist steil genug für lässige Carving-Schwünge, und so flach, dass man sich um Lawinen keine Sorgen machen muss. In anregender Unterhaltung wandern wir durch das weiße Nichts. Hilmar versucht uns die richtige Aussprache von Hvannadalshnúkur beizubringen und erklärt die unterschiedlichen Bedeutungen von Hvannadalshnúkur auf Isländisch. So vergeht die Zeit, der Höhenmesser bewegt sich stetig bergauf, und tatsächlich erreichen wir irgendwann den höchsten Punkt Islands und den vorläufigen Höhepunkt eines fantastischen Tages,
Was bleibt
Was bleibt? Das sind sicher unsere Erinnerungen an die vielen kleinen und großen Momente an diesem zweiten Mai 2019. Da wären Hilmars grenzenloser Optimismus, der belohnt wurde, als wir für kurze Zeit über einem riesigen Wolkenmeer standen. Die trotz des schlechten Wetters fantastische, gefühlt endlos lange Abfahrt, der ständige Schneeregen, der unsere windzugewandten Körperteile mit einem Eispanzer überzog, die riesigen Schneeskulpturen am Gipfelgrat, das Welcome-Bier von Sigrun, die uns am Ausgangspunkt der Tour abholte und natürlich die Freude, gemeinsam zu fünft am Gipfel zu stehen.
Und ganz bestimmt auch, weil Hilmar beim Abschied meinte: „Dass ihr Deutschen bei so einem Wetter auf die Berge steigt… wir Isländer bleiben da lieber zu Hause!“